Zeitzeugengespräch mit Yonat Shlezinger-Shafir:
Am 26. Februar hatten wir die besondere Gelegenheit, die Jüdin Yonat Shlezinger-Shafir am Neuen Gymnasium zu begrüßen. Sie sprach als Zeitzeugin der zweiten Generation über die bewegende Geschichte ihrer Eltern während der Zeit des Nationalsozialismus.
Zu Beginn der Veranstaltung stimmte sie uns mit einem Lied ein, das ihr viel bedeutet.
Der Sänger des Liedes war in einem Flüchtlingslager geboren worden und hatte als Kind
von Holocaust-Überlebenden in Israel gelebt. Yonat Shlezinger-Shafir fühlt sich durch
dieses Lied tief angesprochen, was uns bereits zu Beginn die emotionale Bedeutung
ihrer Erzählungen verdeutlichte.
Anschließend begann sie mit der Geschichte ihres Vaters. Seine Familie besaß damals
einen kleinen Familienladen, der jedoch schnell ins Visier der Nationalsozialisten geriet.
Der Laden wurde als jüdisches Eigentum gekennzeichnet, und schließlich musste die
Familie den Laden verkaufen, wodurch sie ihre Lebensgrundlage verlor.
Ihr Vater las damals „Mein Kampf“ und besuchte Veranstaltungen der Hitlerjugend. So
wurde ihm schnell bewusst, dass Deutschland keine Heimat für ihn mehr war. Er konnte
nach Palästina fliehen, wo später der Staat Israel gegründet wurde.
Die Geschichte ihrer Mutter fällt der Zeitzeugin schwerer zu erzählen. Ihre Mutter
stammte aus Polen. Als ihr erster Mann, Willo Sheinberg, in die Armee einberufen
wurde, war sie schwanger. Sie brachte ihr erstes Kind, Amos, in einem Krankenhaus zur
Welt, das kurz darauf bombardiert wurde, und sie floh mit ihrem Baby in ein Ghetto.
Dort starb das Kind, und die junge Mutter verstummte vor Schock für sechs Monate.
Doch die Grausamkeiten endeten nicht. Nach einiger Zeit durchsuchten SS-Soldaten
das Ghetto und deportierten alle, die sie finden konnten. Die Mutter und ihre Familie
versteckten sich in einer Zwischenwand. Jedoch begannen die Soldaten nach kurzer
Zeit, die Wände zu durchlöchern, und die Mutter sowie die Großmutter von Yonat flohen
zu einem ukrainischen Bauern. Dort versteckten sie sich mit anderen in einer
Schutzgrube. Doch die Grube wurde bald zu eng, und die Mutter flüchtete in die Wälder.
Später sagte sie, die Wölfe seien zu ihr lieber gewesen als die Menschen.
Die Großmutter blieb zunächst in der Grube, doch schließlich steckte sie sich den
gelben Stern an und ließ sich auf offener Straße von Soldaten erschießen. Als die Mutter
zurückkehrte und dies erfuhr, verließ sie jede übrig gebliebene Hoffnung. Ihre ganze
Familie war tot, nur sie hatte überlebt.
Schließlich floh sie nach München und kümmerte sich dort um Waisen und nahm für
diese die Mutter- oder Schwesterrolle ein.
Zusammen mit den Waisen und einigen anderen Menschen floh sie in Lastwagen nach
Italien. Von dort ging es mit ihnen auf ein Schiff. Jedoch stoppten sie britische Soldaten,
und sie wurden nach Zypern gebracht.
Die Mutter von Yonat war zu diesem Zeitpunkt so erschöpft und hoffnungslos, dass sie
nicht mehr aß und sterben wollte. Ihr körperlicher Zustand war so schlecht, dass sie für
andere wie eine Überlebende eines Konzentrationslagers aussah.
Nach einigen Monaten besserte sich jedoch die Stimmung langsam, als die Briten die
Tore öffneten. Schließlich gelangten sie nach Israel, wo sie den Vater von Yonat
Shlezinger-Shafir kennenlernte.
Yonat Shlezinger-Shafir berichtete auch über ihre eigenen Erfahrungen mit ihren Eltern.
Die Mutter litt unter schweren Albträumen und schrie oft im Schlaf – der Teufel der
Vergangenheit verfolgte sie immer noch. Besonders bewegend war die Schilderung,
dass die zweite Generation, also Yonat selbst, die Traumata ihrer Mutter sozusagen
über die Muttermilch geerbt habe. Von klein auf habe sie die Ängste und das Leid ihrer
Mutter mitbekommen, was ihr eigenes Leben stark geprägt habe.
Am Ende durften wir Schüler selbst mit der Zeitzeugin zweiter Generation sprechen und
es ermöglichte sich ein verständnisvoller Austausch beider Seiten.
Die Erzählungen von Yonat Shlezinger-Shafir hinterließen bei uns einen tiefen Eindruck.
Ihre Worte machten deutlich, wie wichtig es ist, die Erinnerung an die Opfer des
Nationalsozialismus wachzuhalten und gegen das Vergessen zu kämpfen. Der Mut und
die Stärke ihrer Eltern sowie ihre eigene Entschlossenheit, ihre Geschichte
weiterzugeben, sind ein eindringliches Mahnmal für uns alle.