Job – Shadowing am „Lyseo Gradia“ in Jyväskylä/Finnland
Erasmus plus sei Dank!
Die Teilnahme am Erasmus plus Programm ermöglicht es Lehrerinnen und Lehrer an einem sogenannten „Job-Shadowing“ teilzunehmen. Im Rahmen des Programms hatte ich die Gelegenheit nach Jyväskylä in Mittelfinnland zu reisen und dort das „Lyseo Gradia“ kennenzulernen. Mit dem „Gradia“ kooperieren wir seit vielen Jahren: jährlich finden Austausche im Europaprofil der Oberstufe statt, wobei in der Regel vier Schülerinnen und Schüler für zwei bis drei Wochen jedes Jahr nach Jyväskylä fahren. Im Rahmen dieser Individualaustausche kommen die finnischen Schülerinnen und Schüler dann auch für zwei bis drei Wochen nach Bochum.
Das „Gradia“ ist eine Schule mit ca.1300 Oberstufenschülerinnen und -schülern, die nach vier Jahren die „nationale finnische Immatrikulationsprüfung“ ablegen, vergleichbar mit dem der deutschen Abiturprüfung. Neben diesem allgemeinbildenden Zweig besitzt die Schule auch einen berufsbildenden Zweig.
Das „Gradia“ besteht in seiner jetzigen Größe erst seit wenigen Jahren, da mehrere „Oberschulen“ aus der Region fusionierten. Nach aufwändiger Renovierung der ursprünglich für andere Zwecke genutzten Gebäude präsentiert sich das „Gradia“ als eine moderne Schule, die aus drei größeren, miteinander verbundenen Trakten besteht und zahlreiche Besonderheiten aufweisen. Dazu später mehr...
Die Erfahrungen mit unseren zahlreichen Partnerschulen haben gezeigt, dass persönliche Kontakte für die Kontinuität und das Gelingen von Austauschprogrammen enorm wichtig sind. Unsere langjährige Kontaktperson Päivi wird im September dieses Jahres pensioniert werden wird und ich werde mich in Zukunft um die Mobilitäten (Schüleraustausche) mit dem „Gradia“ kümmern. Also folgte ich der Einladung der Schulleiterin Outi und machte mich in der Karnevalswoche auf den Weg nach Finnland,
um unsere neue Kontaktperson Pirrko kennenzulernen und mögliche gemeinsame zukünftige Aktivitäten zu planen und zu besprechen.
Traditionelles finnisches Holzhaus
Jy-Was? - Jyväskylä!
Jyväskylä ist eine bedeutende, junge und lebendige Stadt mit ungefähr 140.000 Einwohnern, davon ca. 42.000 Studentinnen und Studenten. Es liegt ca. 300 km von Helsinki entfernt an einer Seenlandschaft in Mittelfinnland. Es ist ein wichtiges Industriegebiet und gilt als das finnische Zentrum der Informations- und
Kommunikationstechnologie, Nano-, Energie- sowie Kommunikationstechnologie. Die Universität, deren Gebäude und Fakultäten in der ganzen Stadt verteilt sind, gilt als die schönste Universität Finnlands.
Jyväskylä ist auch ein kulturelles Zentrum. Alvar Aalto, der berühmte finnische Architekt, verbrachte einen Großteil seines Lebens dort und hinterließ mit seiner Architektur deutliche Spuren in der Region. So befindet sich ein modernes und sehenswertes „Museum Aalto“ unweit des Zentrums der Stadt. Daneben gibt es in Jyväskylä und Umgebung einige weitere Museen, z. B. das landeskundliche Museum Mittelfinnland oder das Punkmuseum.
Universität von Jyväskylä – Paavo Nurmi (Lauflegende)
Sport und die Sportkultur haben einen wichtigen Platz in der Stadt und der Umgebung. Die Sportfakultät der Universität besitzt international einen hervorragenden Ruf und auch das Zentrum für den finnischen Leistungssport ist hier ansässig. Die modernen Sportstätten sowie die zahlreichen nordischen Sportmöglichkeiten bieten Sportbegeisterten viele Optionen, die von den Menschen genutzt werden, auch bei den während meines Aufenthaltes mehr als frostigen Temperaturen. Zudem fallen die vielen
gut besuchten Tanz- und Fitnessstudios auf, die überall im Stadtgebiet verteilt sind.
Seeblick mit Eislaufbahn
„Lyseo Gradia “
Das „Lyseo Gradia“ ist bereits seit einigen Jahren Erasmus+ Schule und fördert ebenso wie das NGB zahlreiche Mobilitäten von Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern. Es ist eine sehr engagierte Europaschule. Während meines Aufenthaltes waren verschieden Schülergruppen aus europäischen Partnerschulen vor Ort (Heilbronn, Sevilla, Marseille) und arbeiteten gemeinsam an verschiedenen Themen, vorwiegend im Bereich Nachhaltigkeit. Die Zusammenarbeit mit ortsansässigen
Unternehmen und kommunalen Stellen in Form von Exkursionen, Besichtigungen oder Vorträgen, an denen ich während meines Aufenthaltes z.T. teilnehmen konnte, erschien mir in verschiedener Hinsicht beispielhaft.
Lyseo Gradia
Der Focus meines Jobshadowing sollte aber verstärkt in den Bereichen Unterrichtsgestaltung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit sowie Unterrichtsorganisation liegen. Darüber hinaus wollte ich erfahren, warum finnische Schülerinnen und Schüler in den vergangenen Ergebnissen der Pisa Studie meist gute Ergebnisse erzielt haben. Auch sollte eruiert werden, ob weitere gemeinsame Projekte in Zukunft geplant werden können. Zudem war ich natürlich interessiert an der finnischen Kultur, „wie der Finne so
tickt“ und wieso die Menschen in Finnland angeblich glücklicher sind als Menschen in anderen Ländern.
Schülerfirma „Best Cut“
Tanzen bei Minus 30 Grad
Als ich in Jyväskylä ankam, war es mit minus 30 Grad gefühlt und real wirklich kalt. Da bei diesen eisigen Temperaturen Wolken anscheinend seltener sind, erschien Jyväskylä im strahlenden Licht und glänzte in der Sonne. Und bei Sonne ist alles immer schöner, auch Schulen...
Der erste Tag im „Gradia“ ist festlich: ein Teil der Schülerinnen und Schüler (ca. 300) ist feierlich gekleidet und präsentiert sich den Mitschülerinnen und Mitschülern durch einen Gang durch die Gänge der Institution Schule. Danach geht es in die nahegelegen städtische Riesensporthalle, wo Eltern, Verwandte und Lehrerinnen und Lehrer bereits warten. Nun wird getanzt! Die klassischen Tänze, die präsentiert werden, wurden im Sportunterricht der letzten Wochen akribisch vorbereitet, einstudiert und wirken sehr
professionell. Aber auch eigene Choreografien der Schülerinnen und Schülern werden präsentiert. Gefeiert wird hier aber nicht eine bestandene Abiturprüfung, sondern das Erreichen des Ältestenstatus in der Schule. Eine Tradition, die in Finnland schon seit langer Zeit besteht. Am Abend wird dann an gleicher Stelle ein großer Ball stattfinden, bevor die Schülerinnen und Schüler sich für das Wochenende verabschieden und in Blockhütten ihren neuen Status feucht und fröhlich feiern.
Traditionelle Tanzveranstaltung der Vorabiturientinnen und -abiturienten
Mich hat diese Veranstaltung sehr beeindruckt, da sich scheinbar alle Schülerinnen und Schüler mit dieser Tradition stark identifizieren und ein kollektives Meisterstück vollbringen.
Daddeln in Finnland
In den folgenden Tagen hatte ich dann Gelegenheit, die Schule und die Kolleginnen und Kollegen besser kennenzulernen. Ich nahm am Unterricht in den Fächern Deutsch, Sport und Sozialwissenschaften/Ökonomie teil. Die meiste Zeit jedoch sprach und hörte ich Englisch.
„Komm bitte unparfümiert!“
Der Unterricht in finnischer Sprache hörte sich lustig an, da ich so gut wie nichts ableiten und somit verstehen konnte. Er stellte mich inhaltlich vor großen Herausforderungen, bot jedoch auch Gelegenheit andere Beobachtungsschwerpunkte zu setzen, die u.a. zu folgenden Ergebnissen führten: auch finnische Schülerinnen und Schüler sind nicht immer aufmerksam im Unterricht, spielen an ihren digitalen
Endgeräten, beschäftigen sich mit unterrichtsfremden Inhalten und beteiligen sich nicht oder nur sporadisch am Unterricht, sind abgelenkt oder lenken andere ab. Der Unterricht ist auch nicht so verrückt, schülerorientiert und kreativ wie zuvor von mir angenommen und selbst die Gruppen sind nicht so klein wie erwartet. Gelernt wird vor allem für die schriftliche Prüfung am Ende des achtwöchigen Kurses, die dann zwei Drittel der Note für den Kurs ausmacht. Also kein Hexenwerk!
Unterrichtsraum „Social Economics“
Die Unterrichtsatmosphäre erscheint mir dennoch ruhiger und entspannter. Jeder besitzt ein Laptop (Lenovo Thinkpad), der von der Schule zur Verfügung gestellt wird und am Ende der Schulzeit für einen symbolischen Betrag gekauft werden kann. Die Unterrichtsinhalte werden über eine digitale schulische Plattform präsentiert. Auf dieser Plattform sind Schulbücher und Aufgaben hinterlegt und auch die Möglichkeit z.B. kurze Filme mit der Kamera aufzunehmen ist gegeben und stellt die Organisatoren wohl nicht vor wesentliche datenschutzrechtliche Probleme. Im Unterschied zu unserer „Moodle Plattform“ ist diese Plattform auch in den jeweiligen Unterricht integriert. Schülerinnen und Schüler können den Lerninhalten des Unterrichts so auch digital besser folgen und das in einer entspannten Lernatmosphäre.
Sofasurfing und Vändälismö (Ilkivaltaa)
Viele Kursräume haben unterschiedliche Sitzmöbel, die diese Art von Unterricht unterstützen. So können sich die Schülerinnen und Schüler oft in den Kursräumen zwischen Sofa oder Stuhl entscheiden und es herrscht zumindest räumlich gesehen kein Frontalunterricht.
Die Ausstattung der Schule ist auch in anderen Bereichen schülerorientiert, fortschrittlich und facettenreich. So gibt es an vielen Stellen in den Gebäuden Musikinstrumente, die frei verfügbar sind. Kicker, Tischtennisplatten, Billardtische, Rückzugsorte, Kabinen für private Gespräche und gutes Essen. Diese Angebote werden von den Schülerinnen und Schülern breit genutzt, wertgeschätzt und respektvoll
behandelt.
Auch haben die Schülerinnen und Schüler und auch die Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit in der Schule zu frühstücken und Mittag zu essen. Sie nehmen dies zum Großteil auch wahr, weil das Essen lecker und gesund ist, worüber ich mich als guter Esser sehr gefreut habe.
Neben der Qualität und Quantität des Essens fiel mir vor allem angenehm auf, dass es anscheinend niemals Gedränge und Chaos zu geben scheint. Jeder entsorgt z.B. sein Besteck und etwaige Essensreste selbständig, sorgt beim Küchenpersonal dafür, dass Essen nachgefüllt wird, wenn dies nicht mehr vorhanden und verhält sich auch hier rücksichtsvoll und solidarisch - ein Verhalten, dass ich in dieser Art vorher nirgendwo so perfektioniert beobachten konnte. Zudem fiel auf, dass jede und jeder seine Hände vor und nach dem Essen sowie vor und nach dem Toilettengang gründlich wäscht, ein
Verhalten, dass wohl auch vor Corona-Zeiten in Finnland üblich war.
Auch Vandalismus (Ilkivaltaa) scheint am „Gradia“ kein wirkliches Thema zu sein, auch wenn vereinzelt ein dezentes Grafitti oder ein kleinerer Text mit Edding zu entdecken ist. Entsprechend waren auch die Toiletten im Schulgebäude in einem fast makellosen Zustand. Gerade hier stellt sich mir die Frage, warum dies in deutschen Schulen nicht möglich zu sein scheint, zumal man diese ja hin und wieder selbst benutzen möchte.
Redlichkeit und Distanziertheit
„Als Redlichkeit bezeichnet man die Tugend und Charaktereigenschaft einer Person, entsprechend den Regeln einer Gemeinschaft gerecht, aufrichtig oder loyal zu sein.“
(Wikipedia)
Ich hatte oftmals den Eindruck, dass die Finnen, die mir begegneten, zunächst recht distanziert waren, aber wenn diese Distanz gebrochen war, sie sehr zugewandt, verbindlich und eben redlich waren.
Wenn man sicher sein kann, dass der Andere aus Überzeugung rücksichtsvoll und eben „redlich“ ist, erleichtert dies das Leben schon sehr. Wenn die Finnen also tatsächlich glücklicher sind als die meisten anderen Menschen bzw. Länder dieser Welt könnte es daran liegen, dass sie sich trotz Regen und Kälte,
Mücken und Dunkelheit stärker auf die Redlichkeit der Menschen in einem sozialen System verlassen können.
Junges finnisches Eishockeytalent
Das Ende vom Lied...
Das Job-Shadowing in Finnland hat mir sehr gut gefallen. Das „Gradia“ mit seinen Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern hat mich warmherzig aufgenommen. Ich habe einige Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, mit denen das NGB in Zukunft gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern Projekte zum Thema „Nachhaltigkeit“ und „Glück“ planen wird.
Darüber hinaus habe ich u.a. noch folgende Dinge erleben bzw. beobachten können:
• Die Woche am Gradia beginnt montags um 8 Uhr mit einer 45-minütigen Teams Sitzung für alle Lehrerinnen und Lehrer. Diese findet hybrid statt und informiert über wichtige Dinge, die in dieser Woche anstehen.
• Eine Unterrichtseinheit beträgt 75 Minuten!
• Das Schulsystem in Finnland fördert längeres gemeinsames Lernen.
• Es gibt keine freie Fächerwahl für Lehrerinnen und Lehrer im Rahmen der Berufsausbildung: Sportlehrer haben als zweites Fach in der Regel das Fach Gesundheitserziehung, Historiker oftmals Sozialwissenschaften oder Philosophie oder Psychologie, Sprachenlehrerinnen Sprachen und
Naturwissenschaftler Mathe.
• Die Hierarchien in Schulsystem sind flacher.
• Schulverwaltung und Unterricht sind personell stärker voneinander getrennt.
• „Reduce, Reuse und Recycle“ sind gelebte Grundsätze im schulischen Leben.
Auch habe ich viele interessante Diskussionen führen können. Ich war in Finnland, als Alexander Stubb in einer Stichwahl neuer finnische Präsident wurde. Trotz eines knappen Wahlausgangs ein unaufgeregtes Ereignis! Ich durfte Einblicke in ein Land gewinnen, das sich aufgrund seiner geografischen Lage und seiner historischen Erfahrungen in den derzeitigen geopolitischen Veränderungen in einer besonderen
Situation befindet und für das Organisationen wie die NATO oder die EU wichtige Stützpfeiler darstellen.
Dass die EU Erfahrungen und Begegnungen wie Erasmus plus Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern ermöglicht, ist eine Investition in die Zukunft und trägt hoffentlich dazu bei, dass der gedankliche Austausch zwischen Menschen in Europa weiter gefördert wird und der europäische Gedanke sich in Zukunft stärker zeigt bzw. verbreitet.
V. Gorn
------------------------------------------------------------------------------------------------
Diese Aktivität wurde unterstützt durch:
Von der Europäischen Union finanziert.
Die geäußerten Ansichten und Meinungen entsprechen jedoch ausschließlich denen des Autors bzw. der Autoren und spiegeln nicht zwingend die der Europäischen Union oder der Europäischen Exekutivagentur für Bildung und Kultur (EACEA) wider. Weder die Europäische Union noch die EACEA können dafür verantwortlich gemacht werden.